In seinem neuen Buch gibt Peter Mersch einen kurzen Abriss seiner Systemischen Evolutionstheorie und wendet sie auf verschiedene akute Probleme der Politik und Wirtschaft an. Im letzten Abschnitt “Was tun?” schliesst er, dass die “bislang noch fehlende Beherrschbarkeit der Bevölkerungsentwicklung das vermutlich wichtigste offene globale Problem” überhaupt ist (Seite 224). Aber das Streben der Individuen nach Kompetenzerhalt “unterbindet gruppenweit optimale Lösungen” (Seite 225). Wichtig: “der Mensch ist längst nicht mehr die Krone der Schöpfung, sondern die menschlichen Superorganismen –insbesondere die globalen Konzerne- sind dies jetzt. Superorganismen streben als selbstreproduktive Systeme danach, ihre eigenen Kompetenzen zu reproduzieren. Sie arbeiten folglich primär nicht für den Menschen, sondern in erster Linie für sich” (Seite 210). Mersch schlägt einige Rezepte zur Entschärfung der Fehlentwicklungen vor, ist im Grunde aber pessimistisch, dass sich die Situation in demokratischen Staaten ändern lässt. Es muss “erst wieder gehörig krachen”, um zum Andershandeln bewegt zu werden (Seite 195). Auf jeden Fall aber, wenn es noch Hoffnung gibt, müssten die Entscheidungsträger lernen, system-evolutionär zu denken.
Die Grundzüge der Systemischen Evolutionstheorie wurden bereits an anderen Stellen besprochen, ebenso sein Familienmanager-Vorschlag, und sollen hier nicht erneut diskutiert werden. Ich beschränke mich auf die Kritik einiger besonders interessanter Gesichtpunkte.
Das Buch sollte Pflichtlektüre für Politiker und Wirtschaftswissenschaftler sein, die ihren Horizont über gängige Paradigmen hinaus erweitern wollen. Es ist klar geschrieben und macht viele Entwicklungen in der Wirtschaft und Politik anhand einfacher Beispiele beeindruckend klar. Vor allem wird überzeugend dargestellt, dass nur ein evolutionärer Ansatz Generationsgerechtigkeit begründen kann. Die Darstellung überzeugt in vieler Hinsicht, obwohl ich nicht mit allem einverstanden bin.
Einige Einwände bezüglich der Kompetenzerhaltung, der Intelligenz, der stabilen evolutionären Gleichgewichte, der Nischenbildung, unter anderem, werden im folgenden kurz besprochen.
1) Erhalt der Kompetenzen. Peter Mersch sieht den Kompetenzerhalt, die Vermeidung des Kompetenzverlustes, als Grundeigenschaft des Lebens an. Ist das wirklich so, oder sollte es nicht vielmehr die Kompetenzsteigerung sein? Immerhin muss man im Spiel der Red Queens laufend etwas über das Ziel hinausschiessen, um nicht ins Nachtreffen zu geraten. Hält man gerade so mit, besteht die Gefahr, auf Grund stochastischer Umweltschwankungen irgendwann einmal ins Jenseits befördert zu werden. Die Evolutionsakteure sind “aktiv” und reagieren nicht nur passiv auf was die Nachbarn tun. Und mir scheint (oder es ist zumindest denkbar), dass diese Eigenschaft vielleicht nicht neu für jede Art erworben wird, sondern bereits in der evolutionären “Ur”geschichte entstanden ist, um dann an alle Nachkommen weitergegeben zu werden. Wahrlich ein generelles Lebensprinzip. – Dagegen schreibt Mersch jedoch (Seite 61): “Lebewesen versuchen nämlich vor allem, ihre Kompetenzen zu bewahren beziehungsweise Kompetenzverluste zu vermeiden, nicht jedoch sie ohne Not gegenüber anderen auszuweiten oder gar andere zu übervorteilen. Dies geschieht im Allgemeinen nur, wenn entsprechende Verhältnisse vorliegen.” Der letzte zitierte Satz lässt allerdings eine Hintertür offen, anscheinend doch manchmal Übervorteilung.
2) Intelligenz. Ich bin kein Intelligenzforscher und meine Bemerkungen sind daher mit Vorsicht zu geniessen. Jedoch: es ist zumindest fraglich, dass die Intelligenz, wie von manchen behauptet, durch ein einziges Gen begründet ist (was Mersch übrigens nicht behauptet). Dagegen sprechen zum Beispiel die Intelligenztests, die unterschiedliche Aspekte der Intelligenz (verbale, räumliche Perzeption, abstraktes Denken usw.) messen, deren Ergebnisse oft aber nicht unbedingt positiv miteinander korreliert sind (Seite 69). Dazu kommt noch die Möglichkeit eines Heterosiseffektes. Dies hat zur Folge, dass man an die Abschätzung der Intelligenz in Populationen (IQ) mit grosser Vorsicht herangehen sollte. Was die Pisatests anbetrifft, die von manchen als Quelle ihrer Überlegungen benutzt werden, so scheint es mir zumindest fraglich, dass sie tatsächlich als zuverlässige Quelle für erbliche Intelligenz benutzt werden können.
3) Wie viele hoch intelligente Leute benötigt ein Land? Es fällt auf, dass mit Durchschnittswerten von IQ gearbeitet wird. Aber wie viele Quantumphysiker, Mathematiker usw. benötigt ein Land? Wäre es nicht zumindest ebenso wichtig, sich auf die Intelligenzentwicklung der “Eliten” zu kümmern. In anderen Worten, solange die “Eliten” funktionieren, kann der Rest ruhig ein bisschen absinken, was allerdings auf eine aristokrastische und nicht eine demokratische Struktur hinausliefe. Und wie lange liefe das gut? – Der eben geäusserte Gedanke dürfte bei Gleichheitsfanatikern kaum auf Gegenliebe stossen; sie sollten in erster Linie daran interessiert sein, die Durchschnitts-Intelligenz hochzuhalten. Aber tun sie das? Zumindest nicht mit Erfolg versprechender Methodik, wie im Buch ausreichend klar gemacht.
4) Optimierung. Einige Ökologen sind der Ansicht, das seine Optimierung wegen der grossen Umweltvariabilität garnicht möglich ist. Das gleiche sollte man beim Menschen erwarten. Was heute nützlich ist, ist es morgen nicht mehr, und dass kann sich natürlich auch auf die Intelligenz beziehen. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass einige Ökonomen die Ökonomie als die “Wissenschaft von der Optimierung der individuellen Bedürfnisbefriedigung bei knappen Ressourcen” definieren (Seite 212).
5) Nischenbildung. Sie ist nicht immer eine Folge des Konkurrenzkampfes um begrenzende Ressourcen, sie ist oft ein Mechanismus zu einer wirksameren Fortpflanzung (Treffen von Geschlechtspartnern). Sollte es zutreffen, dass der Nischenraum weitgehend leer ist, kann Nischenbildung rein zufällig ohne Zwischenwirkung mit Konkurrenten erfolgen.
6) Begrenzende Ressourcen und leere Nischen. Bekannte Ökologen haben schon vor einiger Zeit gezeigt, dass zahlreiche Tierarten die von ihnen benötigten Ressourcen selten oder niemals selbst annähernd erschöpfend ausnutzen. Der Nischenraum ist weitgehend leer.
7) Vorraussagbarkeit evolutionärer Prozesse. Mersch schreibt (Seite 169): …”Wenn es uns gelingen könnte, auch in den evolutionären Prozessen Redundanzen und Regelmässigkeiten zu entdecken, die uns einen ersten Einblick in die sich ankündigende evolutionäre Zukunft vermittelten, dann hätten wir wesentliche Kompetenzen hinzugewonnen. Ein häufiger Einwand ist, dass sei prinzipiell nicht möglich, da für evolutionäre Prozesse gerade deren Zufälligkeit und Unbestimmtheit charakteristisch sei. Nun ich denke, das vorliegende Buch dürfte diese Auffassung restlos widerlegt haben. Evolution verläuft zwar letzlich zufällig und unbestimmt, jedoch nur bedingt. Und genau hier liegen die Chancen.” — Die Formulierung des letzten Satzes lässt verschiedene Interpretationen zu. Jedoch scheint mir, dass in Hinblick auf nichtlineare und chaotische Prozesse in der evolutionären Ökologie Voraussagen zumindest ausserordentlich schwierig und nur für die unmittelbare Zukunft möglich sind. Das gleiche dürfte für die menschliche Zukunft gelten. Man kann sich ja alle möglichen Szenarien vorstellen: schwarze Schwäne können unsere Wunschvorstellungen leicht über den Haufen werfen.
8) Evolutionsgeschichte und die Bedeutung der Konkurrenz. Lebewesen schaffen sich viele ihrer Ressourcen weitgehend selbst, obwohl sie dafür natürlich leblose anorganische Mineralien usw. benötigen. Die Sauerstoff-Atmosphäre wurde von den Lebewesen selbst geschaffen, um nur ein Beispiel zu nennen. Mir scheint, dass vor vielen Millionen Jahren die wenigen primitiven Mikroben mit grosser Wahrscheinlichkeit gerade mal so an einigen wenigen Stellen überlebten. Zum jetzigen Zeitpunkt sind in den am weitesten fortgeschrittenen Habitaten, den Tropen (wegen der schnelleren Evolution bei hohen Temperaturen) nicht nur die grösste Biodiversität, sondern auch die grösste Anzahl leerer Nischen zu finden (was direkt dem Gleichgewichtsparadigma der traditionellen Ökologie widerspricht). Konkurrenz ist also in fortgeschrittenen Ökosystemen relativ weniger häufig als in “primitiveren”.
9) Stabile evolutionäre Gleichgewichte. Mersch schreibt (Seite 191), “aus evolutionstheoretischer Sicht können die Konzepte der fortwährenden Kompetenzbewahrung, der Generationsgerechtigkeit und der evolutionär stabilen Strategie als weitestgehend synonym betrachtet werden”. Hierzu ist wichtig festzustellen, dass evolutionär stabile Strategien in biologischen Systemen eher die Ausnahme als die Regel darstellen. Unter anderem können sie sich nicht entwickeln, weil ihnen die Umweltvariabilität einen Strich durch die Rechnung macht.
10) Ursachen der Weltkriege. Mersch erklärt die beiden Weltkriege durch die relativ rasche Zunahme der Bevölkerungsdichte (“Bevölkerungsexplosion”) in Europa und insbesondere im damaligen Deutschen Reich und untermauert dies durch einige quantitative Angaben (Bevölkerungszahlen zu Beginn des 19. Jahrhunderts bis kurz vor dem ersten Weltkrieg, und Auswanderung nach Amerika). Die Auswanderung erfolgte zumindest nicht ausschliesslich wegen Überbevölkerung. Irland hatte etwa die gleiche Zahl von Auswanderern wie Deutschland trotz der viel kleineren Bevölkerung, was sicherlich durch die Hungersnot dort verursacht war; für Deutschland fällt auf, dass der Höhepunkt der Auswanderung kurz nach der mislungenen Revolution 1848 war, was anzudeuten scheint, dass es sich um eine Reaktion darauf handelte. Ausserdem, in Amerika wurden im 19. Jahrhundert Einwanderer aktiv angeworben, vor allem dadurch, dass Land in grossem Rahmen zur Verfügung gestellt wurde, und die Bevölkerungsdichte in Deutschland hatte durch den enormen Rückgang im Dreissigjährigen Kriege, dem Siebenjährigen Krieg und den Napoleonischen Kriegen zu Anfang des 19.Jahrhunderts kaum ihre volle “Kapazität” erreicht. Der verzeichnete Anstieg im 19. Jahrhundert ist deshalb kein überzeugender Beweis für eine Überbevölkerung. – Dass andere Ursachen als Überbevölkerung Ursachen von Expansion sein können, wird zum Beispiel auch durch die Kolonisierung Amerikas durch Spanien gezeigt, die unmittelbar nach Eroberung des südlichen Spaniens durch die Christen im 15. Jahrundert stattfand. Waren die französischen Aggressionen unter Ludwig XIV (Strassburg usw.) wirklich die Folge von Bevölkerungsdruck? Oder handelt es sich hierbei um “aktive” Prozesse, sozusagen einen “Expansionsdrang”, und nicht um “passive”, durch Überbevölkerung erzwungene. Also wieder, wie oben bereits angedeutet, Evolutionsakteure sind nicht passiv sondern aktiv, einem inneren Expansionsdrang folgend. Es ist viel spekuliert worden, aber niemand kennt all die Hintergründe, die zur Völkerwanderung, zur Mongolenexpansion, zur Arabisierung des Nahen Ostens, Persiens, Spaniens und Nordafrikas führten, um nur einige Beispiele zu nennen, aber ich vermute, dass ganz einfach ein Drang zur Expansion und zur Kolonisierung zumindest mitbeteiligt war. – Was die Möglichkeit zukünftiger Kriege anbetrifft, es ist wahrscheinlich und fast sicher, dass dahinter, wie schon bei den Kriegen im Iraq, Afghanistan und Libyen und früher beim Umsturz Mossadeqs im Iran, Überlegungen zur Ressourcensicherung, vor allem des Öls stehen werden. Aber kann man den Zugang zu diesen Rohstoffen nicht billiger durch Handel erreichen? Und ferner, kann Ressourcensicherung nicht besser durch Entwicklung neuer Energiequellen erreicht werden? Mir scheint, dass die Politik hier von falschen Vorstellungen der evolutionären Ökologie und insbesondere des Darwinschen Paradigmas (knappe Ressourcen, Kampf ums Dasein) beeinflusst ist. Im Grunde handelt es sich nicht um Knappheit der realen Ressourcen, sondern der virtuellen Ressourcen, d.h. wie sie sich so im “Geiste” der Politiker darstellen. Nicht zu nennen die Interessen des Militärisch-Industriellen Komplexes in führenden Ländern (Kompetenzerweiterung). Hier liegt die grösste Gefahr für zukünftige Kriege, meiner Ansicht nach.
11) Menschliche Superorganismen (Konzerne usw). stellen jetzt die “Krone der Schöpfung” dar (siehe Einleitung oben). Hierzu nur eine kurze Anmerkung: was passiert eigentlich, wenn politische Entscheidungen zur Entmachtung solcher Superorganismen führt? Ist das nicht immerhin möglich? Mersch diskutiert dies in “Zügelung der Superorganismen” (Seiten 210ff). Werden dann vielleicht Kulturen inklusive ihrer Sprachen die Rolle übernehmen? Ist das prinzipiell möglich? Wenn ja, dürfte der Mensch sich die Krone zumindest prinzipiell zurückerobern können, weil er –im Gegensatz zu den menschlichen Superorganismen- bewusste Entscheidungen treffen kann. Dass dies durch “das Zusammenwirken vieler Neuronen (Zellen) zustande” kommt, was dann “nach aussen hin” den Eindruck entstehen lässt, “als wollte der Mensch in seiner Gesamtheit beziehungsweise (als System)” etwas, spielt doch kaum eine Rolle. Subjektiv (und objektiv von den anderen) gesehen will er etwas, und man kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, das menschliche Superorganismen trotz der vielen sie bildenden Komponenten dies (wie zum Beispiel die Abschaffung des Menschen) als Superorganismen jemals können. (Oder vielleicht doch? Roboter!). – Man könnte einwenden, dass ja auch Unternehmen usw. Entscheidungen treffen; aber es sind ja nicht die Unternehmen sondern die sie leitenden Menschen, die das tun. Oder anders formuliert: während beim Menschen ein Netzwerk unzähliger Neuronen einem einheitlichen, die Handlungen bestimmenden Bewusstsein entspricht (psycho-physischer Parallelismus), gibt es ein solches Bewusstsein der Superorganismen nicht: das Netzwerk der ein Unternehmen bildenden Komponenten ist viel weniger komplex und kann sich jederzeit in seine Komponenten auflösen. Handlungen werden nicht vom Superorganismus sondern von einigen Personen in ihm bestimmt.
Insgesamt und ich wiederhole: Das Buch sollte Pflichtlektüre für Politiker und Wirtschaftswissenschaftler sein, die ihren Horizont über gängige Paradigmen hinaus erweitern wollen. Und nicht nur für Politiker und Wirtschaftswissenschaftler, insbesondere auch für Soziologen, Feministen und Feministinnen, und weitere. Was nicht heissen soll, dass ich mit allem übereinstimme.